Zu Beginn entführe ich dich in deine Lieblingsstadt. Möchtest du lieber den Podcast dazu hören, dann gehe auf Spotify Episode 65 

Und dort in eine der umsatzstärksten Shoppingmeilen. Du findest alle Einzelhändler, die man typischerweise auf Einkaufsstraßen erwartet. H&M ist da, Zara, der Levis Jeansstore, Boss, die Schuhkette Humanic, Esprit, Mango und hunderte weitere Geschäftchen und Geschäfte quer durch alle Branchen. Der übliche Mix. Viele nationale Filialisten und internationale Ketten. Wenige Überraschungen. Wenn du eine Einkaufsstraße kennst, kennst du mehr oder weniger alle. Je nach Jahreszeit leuchten die Schaufenster in unterschiedlichen Farben. Wenn Ausverkauf ist, mehrheitlich in Rot, oft in Kombination mit Gelb. Denn Rot ist die Farbe des Billigen, preispsychologisch betrachtet. Früher fand man das Rot zweimal pro Jahr, zum Sommer- und zum Winterschlussverkauf. Heute gewinnt man leicht den Eindruck, dass das billige Rot fast das ganze Jahr über dominiert … und das nicht nur in deiner Lieblingsstadt.

Unser Gehirn orientiert sich am Besonderen.

Es gibt sie, die Ausnahmen. Einige wenige, immerhin. Geschäfte, die nicht permanent im billigen Rot erstrahlen. Unternehmer, die sich etwas überlegt haben, anstatt einfach dasselbe zu machen, was alle machen. Etwas Besonderes, etwas anderes, etwas Anders[statt]artiges. Und dadurch für alle, die vorbeigehen, eine starke Anziehungskraft entwickeln. Denn so reagiert unser Gehirn. Es ist ständig auf der Suche nach dem Besonderen, den Ausnahmen. Orientierungsreaktion nennen die Psychologen dieses Phänomen. Bei der Vielzahl von Umgebungsreizen, denen wir tagtäglich ausgesetzt sind, muss das menschliche Gehirn auf Effizienz in der Verarbeitung achten. Es kann sich nicht jedem Reiz ausführlich widmen. Und so werden alle Reize, die dem Gehirn im Ersteindruck bekannt vorkommen, gleich in die Schachtel mit der Aufschrift »Bekannt« eingeordnet. Diesen braucht es sich nicht weiter zu widmen, es sei denn, sie weisen auf eine Gefahr hin. Denn das menschliche Gehirn ist vor allem auf eines ausgerichtet: auf Lebenserhaltung.

Nur gibt es meiner Erfahrung nach wenig Lebensbedrohliches auf einer Einkaufsstraße. Daher fallen alle, vor allem die optischen Reize, die von den bekannten Geschäften ausgehen, tendenziell durch unseren Aufmerksamkeitsfilter. Die Orientierungsreaktion setzt nicht ein. Das Gehirn muss sich nicht orientieren, nicht mit dem Reiz beschäftigen. Es kennt sich aus und kann seine Rechenkapazität für Wichtigers nutzen. Aber an einigen wenigen dieser Geschäfte bleibt unser Gehirn hängen. Nicht, weil sie gefährlich wären (außer vielleicht für unsere Brieftasche), sondern weil sie anders sind. Eines davon ist das Geschäftslokal der Gebrüder Stitch [* = www.romankmenta.com/preisbuch]. Gebrüder Stitch verkaufen Jeans. » Gebrüder Stitch ist kein Luxuslabel, kein High-End-Einkaufstempel. Man gibt sich hier im Gegenteil sehr leger und kumpelhaft. Und doch bezahlen bei den Gebrüdern Stitch die Kunden 260 Euro für die Hose, aber sie können gut und gerne auch 700 Euro für ihre Jeans ausgeben. Rabatte und Preisaktionen sind Fremdworte. Interessanterweise kommen potenzielle Kunden im Geschäft kaum auf die Idee, nach einem besseren Preis, einem Rabatt zu fragen.

Angesichts der zur Schau gestellten Liebe zum Detail, so liegen z.B. im Wartebereich originale Bravo-Zeitschriften aus den 1970er Jahren für die Kunden zum Zeitvertreib aus, der Bedeutung der Qualität und der demonstrativen Kreativität im Produkt und den Prozessen, kämen sie sich beinahe schäbig vor, nach so etwas Banalem wie einem Preisnachlass zu fragen. Es würde das Erlebnis stören, wenn nicht sogar zerstören. Und das will niemand. Auch der Kunde nicht, denn der bezahlt schließlich dafür, und das nicht zu knapp. Die Kunden warten bis zu sechs Wochen auf ihre Hose. Warum in aller Welt tun sie das, wenn sie tolle Levis-Markenjeans um 89,95 Euro nur drei Häuser weiter erstehen können … oder gar um 49,95 Euro in Aktion? Und, unter uns gesagt, für die meisten Figuren findet sich bei Levis durchaus etwas gut Passendes.

Was macht die Gebrüder Stitch so besonders? Das Unternehmen hat ein Grundgesetz der Branche infrage gestellt, nämlich das, dass Jeans bereits fertig sind, wenn der Kunde das Geschäft betritt. Dieses Grundgesetz gilt nicht bei den Gebrüdern Stitch. Dort werden Maßjeans fabriziert. Zertifiziert organisch. Und nicht nur das. Das allein wäre zu wenig. Diese Unternehmer haben sich wirklich etwas überlegt. Es gibt ein durchgängiges Konzept, eine Menge spannender, ungewöhnlicher und provokanter Ideen. Und das alles perfekt umgesetzt. Durchgezogen auf allen Kanälen … Website, Facebook, YouTube-Kanal, Blog, E-Mails, Geschäftslokal, Mitarbeiter. Mit beinahe pedantischer Detailverliebtheit spricht alles, was Sie von Gebrüder Stitch zu sehen, lesen oder hören bekommen, dieselbe Sprache. Genau das macht die Gebrüder Stitch zu etwas Besonderem, etwas, woran die gelangweilten Gehirne potenzieller Kunden hängenbleiben. Etwas, das die Orientierungsreaktion auslöst.

»Was ist das? Was tun die? Ist das interessant für mich?«, fragt sich das Kundengehirn, und schon ist Aufmerksamkeit vorhanden. Die erste und entscheidende Stufe im Verkauf. Und dieses Auslösen der  Orientierungsreaktion macht Gebrüder Stitch zu einer Insel des Wertvollen in einem Meer des Billigen. Ein wenig wie das kleine gallische Dorf in den Asterix-Comics trotzt das Geschäft der Gebrüder Stitch dem anwogenden Meer des Billigen.

Der Punkt, auf den ich hinauswill, ist, dass von vielen Unternehmen – bei aller Wachstumswut – auf die falschen Parameter geschaut wird. Man stellt Umsätze in den Vordergrund und forciert dieses Umsatzwachstum durch Preisaktionen. Wenn am Monatsende der Umsatz über Plan liegt, knallen die Korken. Es wird gefeiert, obwohl es, wenn man Gewinne und Deckungsbeiträge betrachtet, schon lange nichts mehr zu feiern gäbe. Doch wer weiß am Monatsende, wie viel Deckungsbeitrag er erwirtschaftet hat, geschweige denn am Tagesende? Viele Unternehmen wachsen sich sprichwörtlich zu Tode. Und so läuft man blindlings auf den Abgrund zu. Aber zumindest in Partylaune. Eine Zeit lang. Ein wenig so, wie während des Sex zu sterben.

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Herzlichst Renate